Sonne in Herne schließt

26.12 Abschiedkonzert mit Herner Kreuz

 
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Sonne in Herne schließt

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Gepostet: 16.12.2014 - 16:12 Uhr  ·  #1
Vom Aufgang der „Sonne“ bis zu ihrem Niedergang: Die Zukunft der Kulturgaststätte an der Shamrockstraße sieht finster aus.

Vor dem endgültigen Sundown soll noch mal abgerockt werden. Das Abschiedskonzert gibt am 2. Weihnachtsfeiertag die Band „Herner Kreuz“. Für das letzte „Sonnen“-Event treffen sich zwei der „Sonne“ eng verbundene Akteure in der schummrigen Kulturgaststätte zum inherne-Gespräch: Rainer August Koslowski, der Musiker und einer der treuesten Stammgäste, und Horst „Hotte“ Jebram, der Gastwirt.

Ein Song als Aufforderung

Koslowski wird mit seiner Band „Herner Kreuz“ am 2. Weihnachtsfeiertag die weihnachtliche Stille auf der Bühne der Sonne durchbrechen. Auf seiner Playlist steht mit Sicherheit auch „Immer wieder aufstehn“, der Song, der den Bandleader und seine Band „Herne 3“ in Zeiten der „Neuen Deutschen Welle“ Anfang der 80-er ganz weit nach vorn brachte. Der Song kann als Aufforderung verstanden werden.

Nach Weihnachten ist Schluss

In dunkelsten Tönen schildert Jebram die baulichen Widrigkeiten des Hauses, in der er Pächter ist. „Es regnet hier ungehindert rein“, sagt er. Die Heizung funktioniert nicht mehr, der Putz blättert von den Wänden. Der Bürgersteig ist mit Flatterband abgesperrt, die „Sonnen“-Betreiber haben einen provisorischen Eingang mit schützendem Dach gebaut – immerhin mit rotem Teppich über dem Bürgersteig. Jebram glaubt, dass sich nichts am trostlosen Zustand des Gebäudes ändert, das vor ein paar Wochen vor der Zwangsversteigerung stand und jetzt verkauft wurde. „Alleine eröffne ich an anderer Stelle keine Gaststätte“, sagt der 58-Jährige bei unserem Treffen, „vielleicht mit ein paar jüngeren Leuten.“ Aber ein paar Tage später revidiert er diese Aussage. Nein, es ist genug. Bis kurz nach Weihnachten, und dann ist Schluss.

Die Väter kannten sich von Shamrock

Jebram und Koslowski sitzen bei gedimmten Licht im Kneipenraum. An den Wänden Blechwerbeschilder von Persil, Guiness, Kilkenny, San Miguel, Bierdeckel mit kuriosen Motiven, eine Schallplatte, Bandpostkarten, Werbegiveaways, eine vergoldete Sonne. An der Garderobe eine „Westzeit“. Sie blättern in einem überdimensionalen Archivband, in dem Fotos, Zeitungsausschnitte, Werbematerial eingeklebt sind. Der Gesprächstermin für das Stadtmagazin ist voller Nostalgie und eigentlich schon Teil einer Abschiedsvorstellung. Die beiden verbindet mehr als nur die Kneipengeschichte: „Unsere Väter kannten sich von Shamrock 1.2.“, sagt Koslowski. Und in diesem Stadtteil- und Bergbaumilieu rund um Shamrock sind der Kneipier und der Ex-Musiker aufgewachsen.
Simon Drepper war der Wirt in der Gaststätte an der Feldkampstraße, die 1977 zur „Sonne“ wurde. Koslowski verknüpft mit dem Wirtshaus auch Kindheitserinnerungen. Im Hof drehte sich ein Pony immer Kreis um einen festen Mittelpunkt. Zu Koslowski sagte sein Vater: „Iss den Teller leer, August, dann gehen wir zu Simon Pony reiten.“ Später, zu „Sonne“-Zeiten, wurde der Innenhof zum Biergarten umgestaltet.

Drei Studenten gründen eine Kneipe

1977 ging also die „Sonne“ in der Feldkampstraße auf, betrieben von drei smarten Studenten, die alle drei bei den Jusos waren: Horst Jebram, Wilhelm Meier und Uwe Knüpfer, der spätere WAZ-Chefredakteur. Jebram studierte Sozialwissenschaften, Meier Pädagogik und Knüpfer Neuere Geschichte, Publizistik und Kunstgeschichte. „Im damaligen Alter von 21 war ich mein bester Gast“, grinst Jebram. Für den Namen haben sie sich nicht entschieden, weil es ein sozialistisches Symbol ist (Brüder, zur Freiheit, zur Sonne), sondern aus anderen naheliegenden Gründen. „Das Wort ‚Sonne‘ ist nur positiv besetzt“, sagt Jebram. Das eingängige Logo, das sich keltisch-indianischer Symbolik bedient, entwarf Jebrams Bruder, ein Designer.

Kneipe mit Kultur war ein Novum

„Die Kneipe mit Kultur war ein Novum“, sagt Jebram rückschauend, „und eine Alternative zum städtischen Kulturangebot.“ Hier fanden sich ein: Linke („Links trifft sich“), die Falken, Alternative, Liebhaber von Jazz, Folk und Rock. 1980 gründeten sich an dieser Stelle die Herner Grünen. Jebram und Koslowski hatten eine enge Bindung an die neue Partei. Obwohl sie nicht Mitglieder waren, kandidierten sie bei den Wahlen ???. 8,7 Prozent der Stimmen sammelte Jebram in seinem Wahlbezirk ein, Koslowski als bekannter Musiker sogar 11,3 Prozent. Ihre Politik-Karriere hatte damit aber ein Ende. Die Initiative Kulturbeutel e.V. wurde gegründet, die eine Foto-AG ins Leben rief „und andere progressive Spielchen“ betrieb.

Polizei stürmt Konzert mit MP im Anschlag

1977, das Jahr der Kneipen-Gründung, war auch das Jahr der Schleyer-Entführung. Entsprechend angespannt war die Stimmung in der Stadt. Und denen da in der Feldkampstraße traute man wohl ohnehin zu, RAF-Sympathisanten zu sein. Trotzdem waren Gäste und Betreiber geschockt, als mitten im Konzert die Polizei das Lokal mit der MP im Anschlag stürmte. Aber genauso schnell und ohne Ergebnis verließen die Gesetzeshüter auch die Kneipe. Trotzdem hatte die Polizei die Gaststätte weiterhin im Visier, wenn auch aus anderen Gründen. 13-mal verschafften sich Einbrecher dort Zutritt. Kein Wunder, dass Koslowski eines frühen Morgens unsanft von einem Polizisten geweckt wurde: Nach einer durchzechten Nacht hatte er die letzten Stunden vor Sonnenaufgang im Auto gepennt, das er vor der ‚Sonne‘ geparkt hatte.

Am Anfang tranken alle Alt

Schon bald nach der Eröffnung etablierte sich die Sonne zu einem In-Lokal in der einschlägigen Szene. Die jungen Leute, die hier auftauchten, bestellten sich kein Pils, sich orderten Alt. „Wir gehörten zu den ersten im Ruhrgebiet, die Guiness im Angebot hatten“, so Jebram. Womit der Bogen zur entsprechenden Musik geschlagen wurde. Irish Folk kam in der Szene gut an – sowie andere Spielarten des Folk sowie Jazz.

„Hier traten Leute auf, die einen Namen hatten.“, sagt Jebram. Zum Beispiel der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt („Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“). Auch Alex Wiska stand hier auf der Bühne, der Bekanntheit erlangte durch die Verwendung einer elektrisch verstärkten Saz. „Und mit dieser Saz produzierte Wiska solchen Lärm, das man das Gefühl hatte, ein Güterzug braust über dich hinweg“, weiß Koslowski noch.

Atze Schröder vor fünf Zuschauern

Atze Schröder versuchte hier, seinen Humor an den Mann zu bringen. Nur fünf Leute wollten ihn sehen, wie er später mal Günter Jauch in einer TV-Sendung gestand. Danach ging Schröders Karriere steil nach oben, sodass er für die „Sonne“ nicht mehr finanzierbar war. „Die einzig Band aus der Riege der ganz großen, die wir hier hatten, war Cochise“, erzählt Jebram. Cochise war eine deutsche Musikband aus Dortmund, die sich Ende der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre mit politischen Pop und Folksongs einen Namen machte und in der linksalternativen Szene beliebt war („Der Staat ist doof und stinkt“).

Neben der Musik gehörten Lesungen zum Angebot. So kam Enthüllungsjournalist Günter Wallraff vorbei, um seinen 1977 erschienenen Bestseller „Der Aufmacher – Der Mann, der bei ‚Bild‘ Hans Esser war“ vorzustellen. Viele dieser Autoren haben ihre Unterschrift unter die Decke im Bühnenraum gekritzelt, unter ihnen auch Gregor Gysi, der einen Stuhl zu Hilfe nehmen musste.

Der Hit von „Herne drei“

Rainer Koslowski war nicht nur Gast, er machte auch Programm, indem er zur Gitarre Bob-Dylan-Lieder sang. Am 30. Oktober 1982 spielte Koslowski hier mit seiner Band „Herne 3“. Eintritt: fünf Mark. Als der Termin gebucht wurde, hat niemand vorhergesehen, dass er ein besonderes Echo finden würde. „Aber dann lief eine Woche vorher ‚Immer wieder aufstehn‘ im Radio“, lässt Rainer die Karriere seines größten Hits Revue passieren. „Und danach ging es richtig los. Während der erfolgreichsten Zeit von ‚herne 3‘ war die ‚Sonne‘ das kleinste Lokal, in dem wir aufgetreten sind. Wir hatten 120 Auftritte im Jahr.“ Die Herner Barden füllten damals schon größere Säle. Unter anderem gastierten sie in Hallen mit mehreren tausend Besuchern und in der TV-Sendung Rockpalast. „Plötzlich war die ‚Sonne‘ zu klein für uns“, sinniert Koslowski.

Die Augen Koslowskis leuchten, als er über diese goldene Ära der Neuen Deutschen Welle spricht: „Den ersten Auftritt überhaupt hatte ‚Herne 3‘ im Eickeler ‚Meistertrunk‘. Zu dieser Zeit etablierten sich in Herne mehrere neue Bands wie Yucatan oder Metamorphosis, letztere hat die Jahre bis heute überdauert. Wir waren aber die erste Herner Band mit Platten-Vertrag und TV-Auftritten.“

Keine Zäsur in der „Sonnen“-Geschichte war der Umzug von der Feldkamp- in die Shamrockstraße im Jahr 1990. Im Gegenteil. Die Gaststätte hatte sich in der Stadt definitiv etabliert. Ende der 90-er ging Jebram eine Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt Herne ein: Daraus entwickelte sich die Sommerveranstaltung „Folk im Schlosshof“. „Am Anfang waren wir eine Alternative zum städtischen Angebot, jetzt gehörten wir dazu“, stellt Jebram fest.

Schöne Grüße vom Opa

Das Publikum blieb der Kneipe treu. Neben dem Treuesten der Besucher, Rainer August Koslowski, gab und gibt es zahlreiche Stammgäste. In den Anfangsjahren ließ sich Joachim Krol dort blicken, damals Abiturient, heute einer von Deutschlands bekanntesten Schauspielern. „Krolli, so nannten wir ihn, kam häufig vorbei“, sagt Koslowski. „Ich sehe ihn noch heute vor meinen Augen: Bundeswehrparka, lange Haare, so stand er vor dem Zigarettenautomaten, der so groß war wie er selbst und fragte: ‚Haste mal eine Fluppe?‘.“

Den Historiker Ralf Piorr trifft man hier häufig an – zwischendurch hat er auch schon mal den Wirt gemacht. Oft fand und findet sich dort Willy Thomczyk ein. Heute gehört auch Sohn Tim, angehender Künstler, zum Stammpublikum. Besser kann der Generationenwechsel nicht verdeutlicht werden. Jebram: „Das Publikum hat sich vom Alter her gehalten. Ich höre schon mal: ‚Ich soll Sie von meinem Opa grüßen‘. Und interessant auch: Viele sind so drauf wie wir drauf waren.“ So treffen sich heute hier die jugendlichen Mitglieder des Kulturell-Alternativen Zentrums (KAZ), die der linksalternativen Szene zuzurechnen sind – wie ehedem die Gründerväter.

Das Album ist durchgeblättert. Jebram geht mit uns durch die Räume, lässt uns einen Blick hinter die Kulissen werfen. Vieles ist sehr trashig und voller Gebrauchsspuren. Ein Blick in die Toiletten bestätigt diesen Eindruck. Die alten Klosprüche aber, an die sich Koslowski noch erinnert, sind längst verblichen: „Was sagen Sie als Unbeteiligter zum Thema Intelligenz?“ Auf dem Kondomautomat hatte jemand gekritzelt: „Das schlechteste Kaugummi, dass ich je gezogen habe.“ Jebram meint: „Diese lustigen Äußerungen gehören noch in die Kategorie ‚harmlos‘. Wir haben aber in den ersten Jahren mal eine Anzeige wegen anstößiger Sprüche auf der Toilette erhalten.“

Solche Angriffe konnten der ‚Sonne‘ nicht schaden. Eher setzt dem Wirt die persönliche Belastung zu. „Lange Zeit, bis zu meinem 40. Lebensjahr, habe ich am Tag in meinem Hauptberuf gearbeitet und abends bis in die Puppen Bier gezapft.“ Horst Jebram lässt sich heute fast nur noch bei Veranstaltungen in der Kneipe blicken.

Keine Alternative für die „Sonne“

Eine Gaststätte wie die ‚Sonne‘ wird auch in Zukunft in der Gastronomie-Branche bestehen können, meint Jebram. „Ich glaube, die Kneipe würde weiter funktionieren. Wir haben Publikum, für das es in Herne und Umgebung keine Alternative gibt.“

Aber er selbst wird aufhören. „Ich kann nicht mit fast 60 eine neue Jugendkneipe eröffnen. Uns als Betreibern fehlt der jugendliche Elan.“ Da kann man nur hoffen, dass der Song „Immer wieder aufstehn“ fruchtet. Den wird Koslowski neben vielen anderen mit dem „Herner Kreuz“ am 2. Weihnachtstag in der „Sonne“ darbieten – so wie an mehreren Weihnachtstagen der Vorjahre. Aber vermutlich diesmal zum letzten Mal.

Text: Horst Martens

Herner Kreuz:
https://www.youtube.com/watch?v=0jSznA5Aosc
https://www.youtube.com/watch?v=6kLaKb4E42M
https://www.youtube.com/watch?v=OGDfjffqqcI
https://www.youtube.com/watch?v=LoDdL2_dA5U

Herner Kreuz, Herne 3 bis Epidaurus.
Schade, nach der Belinda (Sulzbach Murr) älteste Rockkneipe in Deutschland, schließt wieder ein ganz bekannter Club.
Tom Cody
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Re: Sonne in Herne schließt

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Gepostet: 16.12.2014 - 17:46 Uhr  ·  #2
Sunny, danke für diesen interessanten Abriß! :r: Mir persönlich war diese Lokalität nicht bekannt! :sleep:
sunny
 
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Re: Sonne in Herne schließt

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Gepostet: 17.12.2014 - 08:40 Uhr  ·  #3
Zitat geschrieben von Tom Cody

Sunny, danke für diesen interessanten Abriß! :r: Mir persönlich war diese Lokalität nicht bekannt! :sleep:


aber die Band, die dort spielt schon? :D
Stattmeister
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Re: Sonne in Herne schließt

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Gepostet: 17.12.2014 - 16:14 Uhr  ·  #4
Sagt mir, trotz der räumlichen Nähe, auch nichts. Hoffe nur, dass ähnliche Institutionen im Ruhrgebiet (wie z.B. das Piano in Dortmund) noch lange überleben werden. Wäre sonst echt schade.
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