Ich zitiere mich mal selbst und komme auf das von mir erwähnte Buch zurück, weil ich es mittlerweile zum zweiten Mal verschenkt habe. Aktuell an eine Kollegin, vorher an einen Artisten (welcher?) hier im Zirkus. Leider ohne Feedback, vielleicht ist es auch im Müll gelandet, ich bin traurig.
Egal, im Essay "Die Erfindung Kreuzbergs: Rio Reiser" wird relativiert und zurecht gerückt, was sonst im Überschwang der Begeisterung über TSS und Rio Reiser unreflektiert bleibt. Groß nimmt Bezug auf Hannes Eybers Buch "König von Deutschland", (Herausgeber ist Gerd Möbius, Mitautor Rio Reiser) und meint, "...und so sang er denn immer, so schön er konnte: Rio Reiser, in besseren Tagen einmal Komponist und Sänger der gefürchteten Frontstadt-Kampfkapelle Ton Steine Scherben, ... die Erinnerungen eines Helden sind es wirklich nicht geworden ... eher schüchterne Bekenntnisse einer Wahl-Kreuzberger Nachtigall, durchsetzt mit Kiffertipps, Bluesrezepten und allerhand Weisheiten von der Straße - was aber der Wahrheitsfindung insgesamt zugutekommt. Statt eine weitere Legende um das Kreuzberg der wilden Jahre herum zu stricken, erzählt Reiser die Geschichte in ‘König von Deutschland‘ haarklein: wie alles anfing, dann aber nicht mehr so recht weiterging." Reisers Homosexualität wird auch kurz thematisiert und "dass seine Suche nach der Geschlechtsidentität des jüngsten Möbius' (Rio Reiser) ... sich mit dem schönen alten Freud'schen Wort 'Triebschicksal' noch immer am besten bezeichnen lässt." Und " es sollte bis zur Gründung von TSS (und auch dann noch Jahre) dauern, bis er (Rio Reiser) zum ersten Mal einen Jungen ins Bett kriegte. Bis dahin musste die Musik das alles ausdrücken und -halten." Seltsam auch, dass Reiser meinte "Berlin war für mich eine Stadt wie Offenbach." Die (West)Berliner Studentenunruhen fanden in Dahlem oder in Kudammnähe statt zu der Zeit des "1968", nicht in Kreuzberg. "Lehrlingsagitrock" tituliert Groß die Musik von TSS. Im Osten hörte man freilich TSS wegen der in den Texten enthaltenen Aufmüpfigkeit, aber eben auch völlig unreflektiert. Gegen den Staat und die Verhältnisse zu sein war oder erschien nur "natürlich"; im Osten war der Staat repressiv, im Westen gewährte er alle im Osten ersehnten Freiheiten, also die Reisefreiheit an erster Stelle, Meinungsfreiheit und, und, und, war aber auch repressiv.
Groß bemerkt auch, dass der letzte Song auf der LP "Keine Macht für niemand" ..."Komm schlaf bei mir" heißt ... und ... „Wenige, für die es zu einer abendlichen Hymne auf das heterosexuelle Hochbett wurde, wussten, dass sie da einem schwulen Sehnsuchtsgedanken lauschten; und Reiser wird es keinem auf die Nase gebunden haben: Schwulsein war bei den Linken nicht 'en vogue'."
Komm schlaf bei mir
Die Sonne kommt und du bist hier
Ich kann dich fühl'n, ich bin ein Teil von dir
Weißt du jetzt, dass du frei bist?
Weißt du jetzt, wer du bist?
Weißt du jetzt, was du tun willst?
Ich bin nicht unter dir, ich bin nicht über dir
Ich bin neben dir
Komm - schlaf bei mir
Komm - schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Ich hab Zeit, denn ich liebe dich
Ich hab Kraft, denn ich liebe dich
Du machst mich stark
Du gibst mir Kraft
Du machst mich groß
Jetzt erst weiß ich sicher, wofür ich geboren bin
Komm - schlaf bei mir
Komm - schlaf bei mir
Komm - schlaf bei mir
Komm - schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
Schlaf bei mir
"Doch gerade das Moment von Umweg, Metapher, (notgedrungener) Politisierung des Privaten sorgte eben auch für den Pop-Instinkt, die sloganhafte Allgemeingültigkeit und bundesweite Strahlkraft der Scherben-Songs. Nicht umsonst reimt sich in ihren Liedern 'Saarbrücken' auf 'unterdrücken', nicht umsonst auch trug ihr selbst gegründetes Label den Namen 'David Volksmund'... Rio Reiser war der unwahrscheinliche Mund einer fake-politischen Revolte, wie die Ästhetik von TSS überhaupt auf einer allgemein ersehnten Erotisierung des Kollektivs beruhte." "Das Mikrophon ist der geile Schwanz des Publikums, der befriedigt werden will" heißt es auf Seite 271 des Erinnerungswerkes (König von Deutschland) blumig."
Groß beschreibt die Musik und Texte von TSS so in etwa als "Anleihen beim Zille- und Zwille Milljöh", und die schwächeren Songs wie 'Paul-Panzers-Blues' hauen derb auf die Wir-hier-unten-Ihr-da-oben-Pauke („Ich geh zum Chef aufs Büro...ich schrei: Du Drecksau / Gehst jetzt arbeiten für meinen Lohn...). Selbst die "beinharte Django-zahlt-heute-nicht-Mentalität des BVG-Songs (Hey, hey, hey, eher brennt die BVG) hat mehr mit Volksfeststimmung zu tun als mit echter Reallohnsenkungsverbitterung."
Zu den „Unterhaltsamkeiten“ von Reisers Text (König von Deutschland) gehöre auch die „glaubhafte Erinnerung daran, wie alles im Fluss war, wie nichts sich wirklich auszuschließen schien in diesen autoritären Gründerjahren: RAF und Kifferblues, Küchentisch und Straßenfest, Orgasmusschwierigkeiten und Produktionsverhältnisse, Karl May und Karl Marx, selbst Agit-Lyrik und wohlverstandenes Christentum: ‚Ich bin tausendmal verblutet / Und sie haben mich vergessen / Ich bin tausendmal verhungert / Und sie war‘n vollgefressen‘ – das ist natürlich volle Kanne Leiden Christi. Aus der Feder seines irdischen Nachfolgers Rio Reiser. Ganz innen drin im Saturnalien-Gebäude des Kreuzberger Kampfsterns Ton Steine Scherben kauert stets die unterdrückte Sohnesgestalt, die das Gewicht der Welt von sich abwälzt, indem sie sich allround-solidarisch zeigt.“
Egal wie, letztens hatte ich diese Scheibe wieder im Player. Und sie gefiel mir sehr gut. Rio Reiser wie er nach TSS war und sang. Kein König von Deutschland. Aber auch nicht unbedingt ein Narr.
Hat mit TSS freilich gar nichts mehr zu tun, ist aber trotzdem hörenswert. Finde ich jedenfalls.
radiot grüßt!