Bach: Konzert für 2 Violinen, Streicher und Basso Continuo d-moll BWV 1043

Aufnahmen von 1915 bis 2013

 
Epikur
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Bach: Konzert für 2 Violinen, Streicher und Basso Continuo d-moll BWV 1043

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Gepostet: 08.07.2013 - 17:51 Uhr  ·  #1
Das Konzert für 2 Violinen, Streicher und Basso Continuo BWV 1043, genannt "Doppelkonzert", ist ein besonders schönes und populäres Instrumentalkonzert, das auch zu meinen Favoriten zählt (ich habe mich selbst auch schon gelegentlich daran versucht). Dieses Konzert und eine Reihe von Interpretationen möchte ich nun vorstellen.

Bachs Doppelkonzert ist spätestens um 1730 entstanden und vermutlich nicht viel früher, wie man heute annimmt (siehe auch Wikipedia). Die Form des dreisätzigen Instrumentalkonzerts war damals noch relativ neu; im Falle des Doppelkonzertes haben die Sätze die Bezeichnungen:

  • Vivace (lebhaft)
  • Largo, ma non tanto (breit, aber nicht zu sehr)
  • Allegro (fröhlich)


Das Orchester ist wie folgt besetzt: Streicher (Violine 1 / 2 und Viola) sowie Basso Continuo (Cello + Cembalo).

Recht blumig beschreibt etwa Knaurs Konzertführer von 1957 das Doppelkonzert so: „Als besonderes Juwel in der Violinkonzertliteratur ist das Konzert für zwei Violinen und Orchester in d-moll hervorzuheben. Der klangliche Zauber, den dieses Konzert ausströmt, […] ist unbeschreiblich. […] Ewige Schönheit klassischer Ausgewogenheit liegt über den drei Sätzen dieses so außerordentlich geschlossenen Werks, besonders beglückend vielleicht im Mittelsatz, dem mit Recht berühmten Largo ma non tanto.“

Alle drei Sätze haben, was das Verhältnis der Stimmen angeht, einen fugenartigen Charakter, und die sich hieraus ergebende Verzahnung der Stimmen bringt ein gewisses motorisches Element mit sich. Andererseits soll besonders der langsame Satz offenbar auch sehr gesanglich wirken.

Diese beiden Aspekte unter einen Hut zu bringen, scheint mir die Hauptschwierigkeit bei der Interpretation des Doppelkonzertes zu sein (die Anforderungen, die das Doppelkonzert an die manuellen Fähigkeiten seiner Interpreten stellt, sind dagegen relativ bescheiden).

Kommen wir jetzt zu den Aufnahmen. Davon haben sich hier im Laufe der Zeit einige angesammelt. Auch wenn die älteren dieser Aufnahmen heutigen Ansprüchen oder sagen wir Hörgewohnheiten nicht mehr gerecht werden können, finde ich es doch interessant zu sehen, wie sich die Klangvorstellungen und Spielweisen im Laufe der Zeit - immerhin fast 100 Jahre - geändert haben.

Zunächst die „historischen“ Aufnahmen:

Fritz Kreisler / Efrem Zimbalist [1915]
Extrem romantisierend gespielt (Agogik, Portamenti), dabei erstaunlich schnell (die schnellen Tempi könnten vielleicht aber auch auf Beschränkungen durch die damalige Aufnahmetechnik zurückzuführen sein).
Beispiel: http://www.youtube.com/watch?v=uFF0_VryZ10

Yehudi Menuhin / Georges Enescu [1932]
Eine legendäre Aufnahme des Wunderkinds Menuhin mit seinem damaligen Lehrer Enescu. Erstaunlich, wie sich die Spielweise seit 1915 gewandelt hat: Wesentlich differenzierteres Vibrato, weniger Portamento. Hervorzuheben ist hier die Steigerung im langsamen Satz: So deutlich wird die, meine ich, in keiner der anderen Aufnahmen gespielt. Insgesamt kommt diese Einspielung heutigen Hörgewohnheiten schon erheblich näher.
Beispiel: http://www.youtube.com/watch?v=GVEXGAZVZPk

Jascha Heifetz / Jascha Heifetz [1946]
Noch ein wenig zügiger und weniger romantisierend. Offenbar durch das Aufnahmeverfahren – Heifetz hat beide Solostimmen nacheinander aufgenommen – haben sich rhythmische Ungenauigkeiten ergeben. Durchaus eine zukunftsweisende Interpretation, allerdings wird Heifetz vermutlich eher mit anderen Interpretationen in Erinnerung bleiben.
Beispiel: http://www.youtube.com/watch?v=ojKltaF_ViA

Die neueren Aufnahmen haben als Pluspunkt eine bessere Klangtechnik, was das Hören hier schon mal angenehmer macht. Interpretatorisch ist in den 1950er- und 60er-Jahren noch keine Revolution zu verzeichnen.

David Oistrach / Igor Oistrach / Goossens mit Royal Philharmonic Orchestra [1962]
Diese Einspielung tendiert von allen mir bekannten am meisten in Richtung „gesanglich“. Die Tempi sind sehr langsam, das Orchester klingt dick und aus heutiger Sicht nicht gerade nach Barock (das Cembalo höre ich z. B. nur mit Mühe heraus), die Heifetz-Version klingt etwa deutlich schlanker. Trotzdem sind, glaube ich, für Viele die Oistrach-Aufnahmen vom Doppelkonzert heute noch maßstabsetzend. Im langsamen Tempo die Melodiebögen mit schönem Ton zu spielen und unter Spannung zu halten, ist übrigens auf der Geige nicht so leicht (wegen der begrenzten Länge des Bogens), und das machen die Oistrachs hier wirklich phantastisch. Der „unbeschreibliche klangliche Zauber“ gemäß Konzertführer von 1957 ist hier vielleicht am besten nachvollziehbar.
Beispiel: http://www.youtube.com/watch?v=TwfNY7H3xiI

Tibor Varga / Gilbert Varga [1967]
Eigentlich nicht schlecht, nur will der Funke hier bei mir nicht überspringen. Vielleicht liegt es am etwas aufdringlichen Dauervibrato oder der relativ geringen Dynamik?
Beispiel: http://www.youtube.com/watch?v=xFEeqxuoWhE

In der Folgezeit setzt sich zunehmend die „historisch informierte Aufführungspraxis“ („HIP“) durch. Das Klangideal geht dadurch mehr in Richtung transparent, weniger „schön“, vielleicht auch tendenziell zügiger.

Meine alte Grumiaux-CD mit den Bach-Konzerten ist verschollen. In Youtube habe ich die Aufnahme aber doch noch gefunden (http://www.youtube.com/watch?v=uizxZqcLzeM), also:
Grumiaux / Krebbers [1978]
Wenn die Oistrachs eine „romantische“ Version vorgelegt haben, könnte man diese als „klassisch“ bezeichnen: Eine sehr ausgewogene, klangschöne Einspielung mit moderater Tempowahl und ohne Ecken und Kanten. Im langsamen Satz gibt es hier kleine rhythmische Ungenauigkeiten und an einigen Stellen im Finale gefällt mir die Artikulation nicht ganz so gut, trotzdem: Ein Klassiker!

Stanley Ritchie / Linda Quan / Helicon Ensemble [1986]
Dies ist z. B. eine Aufnahme, die der „HIP“ verpflichtet ist. Eher ruhig und ausgewogen, auch vom Klangbild her – Reference Recordings hat hier sehr gute Arbeit geleistet. Vielleicht hätte das Ganze noch ein wenig mehr Drive und Dynamik vertragen können?

Carlo Chiarappa / Accademia Bizantina [1991]
(Ob es einen zweiten Solisten gibt oder Chiarappa beide Stimmen gespielt hat, konnte ich jetzt nicht herausfinden, die CD ist längst gerippt und im Lager.) Diese Aufnahme erinnert mich an den Film „Spaceballs“: „Lichtgeschwindigkeit – Lächerliche Geschwindigkeit – Wahnsinnige Geschwindigkeit“ (oder so ähnlich). Positiv gesagt, wird hier das motorische Element stark in den Vordergrund gestellt; der Mittelsatz klingt mehr nach Tanz als nach Lied. Interessant vielleicht, aber nicht mein Fall.

Gunar Letzbor / Daniel Sepec /Ars Antiqua Austria [1995]
Auch eine HIP-Aufnahme, verglichen mit der Helicon-Aufnahme mit deutlich flotteren Tempi. Sicherlich keine schlechte Interpretation, nur konnte ich mich damit bisher noch nicht so recht anfreunden, ich glaube, weil mir die (besonders in den Ecksätzen) in Richtung Staccato tendierende Artikulation nicht so gefällt.

Nigel Kennedy / Daniel Stabrawa / Berliner Philharmoniker [2000]
Hier sind die Ecksätze ebenfalls extrem schnell - beeindruckend, wie die Solisten bei diesem Tempo die Töne noch ausspielen können. Der Mittelsatz ist hier ideal gelungen, hervorragend ausgespielt, dynamisch, rhythmisch: einfach super.

Julia Fischer / Alexander Sitkowetsky / Academy of St. Martin in the Fields [2007]
Recht ähnlich der Kennedy-Aufnahme mit geringfügig moderateren Tempi, weicher, klangschöner, aber etwas weniger experimentierfreudig. Die rhythmische Präzision ist hier phänomenal.

Gottfried von der Goltz /Petra Müllejans / Freiburger Barockorchester [2013]
Dies ist eine aktuelle HIP-Aufnahme, und zwar eine sehr gute. Die Tempowahl finde ich sehr gelungen, dabei hat das Ganze mehr Pfiff als zum Beispiel die Helicon-Aufnahme, die mir im Vergleich ein wenig zu abgeklärt scheint. Dieser Eindruck hat vielleicht auch etwas mit dem Klangbild zu tun: In der neuen Aufnahme ist das wesentlich direkter, anspringender (das Cembalo hätte für meinen Geschmack etwas mehr im Hintergrund bleiben dürfen).

Bemerkenswert an der neuen Goltz / Müllejans-Aufnahme sind übrigens auch ein paar improvisierte Verzierungen im langsamen Satz. Und beim Stichwort „Improvisation“ kommt mir zum Abschluss noch folgende äußerst hörenswerte Bearbeitung in den Sinn, nämlich:

Stéphane Grappelli / Eddie South / Django Reinhardt [1937]
„Interprétation swing et improvisation sur le 1er mvt du concerto en ré mineur de J.-S. Bach“ – dazu sage ich nichts weiter, das muss man gehört haben:
http://www.youtube.com/watch?v=gQZw3nema0Q und (eigentlich direkt anschließend)
http://www.youtube.com/watch?v=_TRjTeQ-sIM
Mr. Upduff
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Re: Bach: Konzert für 2 Violinen, Streicher und Basso Continuo d-moll BWV 1043

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Gepostet: 09.07.2013 - 09:12 Uhr  ·  #2
Als wir 1978 auf einer Klassenfahrt mit unserem Geschichtslehrer nach Rom waren, da hat dieser alte weise Mann uns pubertierenden Pseudofreaks allen Ernstes erzählt, daß er ein großer Klassikfan sei und sogar manchmal daruf tanzen würde...u.a. auf Bach...schmunzend schrieb ich mir aber trotzdem einen Musiktip von ihm auf: "Vivace" aus obigen Konzert...

...wieder zu Hause habe ich mir dann auch irgenswann eine Bach-LP gekauft...und seitdem weiß ich, daß man auf Klassik tanzen kann!

"Vivace" ist bis heute und wohl bis zum St. Nimmerleinstag eins meiner Allerlieblings-Ba-Rock-Stücke...

...danke für die Vorstellung...

...und ich MUSS das Stück hier (leider nicht in der von mir favorisierten Version) hier mal zu Gehöhr bringen:

nobbygard
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Re: Bach: Konzert für 2 Violinen, Streicher und Basso Continuo d-moll BWV 1043

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Gepostet: 09.07.2013 - 11:04 Uhr  ·  #3
Wow, Epikur, eine echte Fleißarbeit, die Du da zusammengetragen hast. Da ich vor allem meine Klassik-Tonträger noch nicht alle bei MS erfasst habe, kann ich gar nicht (ohne Aufwand feststellen, welche Versionen ich dieses genialen Konzertes besitze...

Mister, da hast Du einen Deiner positiven Lehrer raus gegriffen... Ich liebe dieses "Teil"stück auch sehr!

Nobby
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