Das Kräuterweiblein

 
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Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 15.07.2017 - 14:10 Uhr  ·  #1
Das Kräuterweiblein

Am 18. Mai des Jahres 894 wanderte ein altes, verhutzeltes Frauchen den Berg hinauf.
Sie setzte mühsam einen Fuß vor den anderen, die Arme unter der Schürze verborgen, es war noch recht kühl an diesem frühen Morgen.
Auf dem Rücken trug sie einen Korb, darin hatte sie Zweige und Aststücke gelegt.
Darauf verschiedene Kräuter, Blüten und Wurzeln, die sie gesammelt hatte.
Sie war auf dem Weg in ihre mehr als bescheidene Hütte und die Menschen, die ihr begegneten sahen scheu zur Seite.
Sie galt als Hexe, weil sie schon vielen mit ihrer selbstgebrauten Medizin geholfen hatte. Außerdem hatte sie das zweite Gesicht, das heißt, manchmal sagte sie auch die Zukunft voraus und alles, was sie prophezeite, traf ein.
Es war die Unwissenheit, die Dummheit der armen Menschen, die dort lebten, dass sie so über die Alte dachten und redeten.
Die, denen sie geholfen hatte, trauten sich meistens nicht, für sie einzutreten, um nicht durch ihren Ruf Schaden zu nehmen.
Ja. reich waren die Bergbauern nicht und hatten mehr schlecht als Recht ihr Auskommen.
Darum konnten sie sich auch keinen Arzt leisten, wenn jemand in der Familie krank war, sondern versuchten erst einmal selbst, sich zu kurieren.
Zu guter Letzt blieb oft nur der Gang zum Kräuterweiblein, so wurde sie in guten Zeiten genannt. Alles immer im Schutz der Dunkelheit, um nicht entdeckt zu werden.
Auch für das Vieh, der kostbarste Besitz der armen Leute, wurde nicht der Tierarzt gerufen, sondern die Hilfe der Alten in Anspruch genommen.
Wenn sie durchs Dorf ging, standen die Nutznießer mit den Händen in den Taschen oder die Arme über der Brust verschränkt am Wegesrand und schauten verlegen und unsicher hinter ihr her.
Niemand traute sich, sie zu grüßen.
Sie schien es auch gar nicht zu erwarten, sondern ging mit gesenktem Kopf einher.
Böse Zungen behaupteten, das wäre das pure schlechte Gewissen, andere und nur ganz wenige, hielten dagegen.
Als die alte Frau an ihrer Hütte angekommen war, öffnete sie die Tür und betrat den einzigen Raum, den sie hier hatte und der gleichzeitig als Schlaf- und Wohnraum galt. In der Ecke war die Feuerstelle, ein Kessel hing darüber.
Schnell zündete sie ein Feuer an, füllte den Kessel mit Wasser und gab eine Handvoll getrockneter Kräuter hinein.
In einer eisernen Pfanne schmolz sie ein wenig Fett und füllte sie mit selbst gesammelten Pilzen. Ein paar Wurzeln dazu und mit Kräutern gewürzt ergab das ihre kärgliche Mahlzeit.
Zwischendurch schaute sie immer wieder in den Topf, denn das Wasser mit den Kräutern durfte nun nicht mehr kochen, nur noch ein wenig simmern.
Nun lief sie geschäftig hin und her, stellte Flaschen und Tiegel auf ein sauberes Tuch und holte noch die eine oder andere Zutat aus den einfachen Regalen, die an einer Wand der Hütte standen.
Während sie ihre Mixturen und Salben zubereitete, murmelte sie ständig vor sich hin.
Bald würde einer der Bauern zu ihr kommen, eine seiner Ziegen war erkrankt.
Sie fraß nicht mehr und wurde immer schwächer.
Milch gab sie natürlich auch nicht mehr und das machte sich bemerkbar, weil das eine der Haupteinnahmequellen der armen Leute war.
Die Alte setzte sich auf ihren einzigen Stuhl und wartete.
Ein wenig nickte sie ein, aber als es an der Tür klopfte, war sie sofort wieder hellwach.
Da stand schon der Bauer.
Bevor er noch etwas sagen konnte, nahm das alte Weiblein das Fläschchen und den Tiegel, die sie auf dem kleinen, wackeligen Tisch bereitgestellt hatte.
Nun gingen sie ins Dorf. Es war schon dunkel, so dass man die ebenfalls dunkel gekleidete Gestalt, die hinter dem Mann herging, kaum erkennen konnte.
Im Stall stand schon die Bäuerin, besorgt über das kranke Tier gebeugt.
Sie war es auch, die ihren Mann zu dem alten Weib geschickt hatte.
Als der Zustand seiner Ziege immer bedrohlicher wurde, war er schließlich murrend gegangen.
Das Tier lag auf spärlichem Stroh im Stall und hob nicht einmal den Kopf, als sich die Alte näherte.
Die fing sofort an, mit ihm zu sprechen, während ihre Hände den Körper vorsichtig abtasteten.
Dann verlange sie eine Flasche, halbvoll mit Wasser gefüllt, goss einwenig von der Essenz aus dem Fläschchen hinein und flößte dem Tier etwas davon ein.
Dann bestrich sie das Euter mit der Salbe.
Die Ziege hatte von einer Giftpflanze gefressen und weil sie nicht mehr gemolken werden konnte, hatte sich auch noch das Euter entzündet.
Fortwährend vor sich hinmurmelnd strich sie dem Tier über den Kopf.
Der Kampf währte einige Stunden, immer wieder flößte sie ihm etwas von der Medizin ein.
Die meiste Zeit lag die Ziege ruhig da, aber nach einiger Zeit hob sie den Kopf.
Als sie in der nächsten Nacht aufstand, war sie zwar noch wackelig auf den Beinen, aber es ging ihr deutlich besser.
Die Bäuerin bedankte sich und gab der Alten einen Laib Brot und ein paar Eier, ihr Mann stand dabei, sagte nichts und nickte ihr nur zu.
Wieder machte sich die Alte auf den Heimweg, erschöpft aber zufrieden, dass ihr Bemühen Erfolg gehabt hatte.
Den Bauersleuten nahm sie ihr Verhalten nicht übel. Sie wusste, dass auch sie aus Unwissenheit den allgemeinen Vorurteilen Gehör schenkten.
Wenn die Menschen etwas nicht verstehen, ist es Teufels Werk und Hexen gelten ja als seine besten Freunde.
Alles, was das Kräuterweiblein tat, wurde misstrauisch beäugt, auch wenn es letztendlich zum Erfolg führte.
Es war ein heißer, trockener Sommer und Menschen und Vieh fühlten sich wie ausgetrocknet.
Das Getreide litt Schaden und das Gras verbrannte auf der Weide.
Weil die Tiere weniger fraßen, gaben sie entsprechend weniger Milch.
Wenn die Alte jetzt durchs Dorf ging, schauten manche Augen finster auf sie und manch böser Blick folgte ihr.
Erst flüsterten es nur ein paar, dann wurden die Stimmen mehr und immer lauter
Die Hexe hatte ihr Vieh verflucht!!
Kaum noch traute sie sich nach draußen.
Die, denen sie am häufigsten geholfen hatte, schrieen am lautesten.
Das Dorf und die Menschen meidend, ging die Alte ihrer Wege.
Holz sammeln für war eine ihrer Hauptaufgaben, denn es würde einen sehr strengen Winter geben.
Niemand schien ihre Hilfe zu benötigen. Sie aber wusste es besser. Der einflussreichste Mann im Dorf war schwer erkrankt.
Als er nicht mehr reagierte, holte seine Frau in ihrer Angst das Kräuterweiblein. Als diese am Krankenbett stand, nahm sie die Hand des Bauern und murmelte nur *zu spät zu spät* vor sich hin.
Hier war nichts mehr für sie zu tun, das Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Wirres Zeug stammelnd lief die Bäuerin nach draußen, wo sie laut schreiend verkündete, die Hexe habe ihren Mann getötet.
Sofort liefen die Leute aus den paar Häusern herbei, die hier um den Brunnen herum standen und die Rufe wurden immer lauter.
Diejenige, an der sich die Gemüter erregten, verschwand unbehelligt durch die Haustür und machte sich auf den Heimweg.
Die würden sich schon wieder beruhigen, aber mit dieser Einschätzung lag sie falsch.
Ein paar hitzköpfige junge Leute nahmen sich Knüppel und stiegen den Berg hinan, dem Häuschen der Alten entgegen.
Die hatte sich gerade abseits des Weges auf einen Baumstamm gesetzt, als die wilde Horde an ihr vorüber zog.
Sie musste nicht auf die Wortfetzen lauschen, um zu wissen, wohin sie so eilig liefen.
Als die aufgebrachte Menge das Häuschen leer vorfand, schlugen sie alles kurz und klein, was sie besaß.
Die Hexe hat es nicht anders verdient, versicherten sie sich gegenseitig.
Dann liefen sie wieder den Berg hinunter, ihr schlechtes Gewissen mit viel Lärm zum Schweigen bringend.
Die Alte stand vor den Trümmern ihrer Habseligkeiten.
Außer den eisernen Küchengeräten war nichts mehr ganz, selbst das bescheidene Bett war kaputt und unbrauchbar.
Mutlos und traurig stand sie davor.
Dummheit, gepaart mit finsterem Aberglauben brachte ein solches Verhalten zustande.
Mit der Ablehnung der Leute hatte sie leben können, aber die offensichtliche Gewaltbereitschaft mahnte sie zur Vorsicht.
Alles, was noch heil geblieben war packte sie in ihren Korb und machte sich auf den Weg.
Sie stieg weiter den Berg hinauf, immer höher, bis die Sonne hoch am Himmel stand.
Müde suchte sie sich einen schattigen Platz, trank etwas Wasser und aß ein paar Beeren, die sie unterwegs gesammelt hatte.
Im Verborgenen schlief sie ein paar Stunden und machte sich in der Dämmerung wieder auf den Weg.
Sie wanderte immer weiter, schlief zwischendurch, meist im Schatten einiger Bäume und wusste selbst nicht, wohin sie sich wenden sollte.
Vor ihr lag ein weites, grünes Tal.
Sie hatte die Tage und Nächte nicht gezählt, die vergangen waren, seit sie sich auf den Weg gemacht hatte.
Im hellen Sonnenlicht sah alles so friedlich aus.
Ob sie hier Menschen vorfinden würde, die sie in ihrer Andersartigkeit akzeptierten?
Die Alte beschloss, erst einmal hier zu bleiben, wenn sie eine Unterkunft für sich finden würde.
Seit einigen Tagen war ihr jemand gefolgt.
Wie ein scheues Tier hielt sich das Geschöpf im Dunkeln auf, versteckte sich.
Manchmal konnte sie einen Arm, oder zwei Augen im Gebüsch entdecken.
Immer, wenn sie sich umdrehte, hörte das Knacken trockener Äste und das Rascheln der Blätter auf.
Bevor sie sich nun zur Ruhe begab, versuchte sie, Kontakt zu dem Wesen aufzunehmen, doch vergeblich.
Alles Rufen und Locken blieb ohne Erfolg.
Diese Nacht verbrachte sie in einem Unterstand am Waldrand.
Bisher hatte sie sich immer in menschenleeren Gegenden aufgehalten, jetzt wollte sie sich wieder den Menschen zuwenden.
Im Bach wusch sie sich, flocht ihre langen, weißen Haare, die aber sofort wieder unter einer Haube verschwanden und richtete ihre Kleidung.
Noch einmal schaute sie in die Runde, ob sich das geheimnisvolle Wesen zeigen würde, doch alles blieb still.
So kam sie in das Dorf, ohne zu wissen, ob man doch vielleicht schon nach ihr suchte, weil die Kunde von ihrem Wirken als *Hexe* die Runde gemacht hatte.
Die wenigen Menschen, die sie hier traf, sahen sie neugierig, aber nicht misstrauisch an.
Am Brunnen sprach sie eine Frau an, die sie dann zum Ortsvorsteher brachte.
Die Alte sagte, dass sie eine bescheidene Unterkunft suche.
Etwas außerhalb des Dorfes gab es einen verlassenen Bauernhof. Der letzte Besitzer war vor einem Jahr verstorben und kein Erbe erhob Anspruch auf das Gebäude.
Die Ländereien waren der Gemeinde zugefallen und Vieh hatte er sowieso nicht mehr gehabt.
Dort konnte sie sofort einziehen.
Hier hatte sie einen Wohnraum mit einem eisernen Kochherd, Bänken, Stühlen, einem Regal und einem Tisch.
In zwei Alkoven, rechts und links in die Wand eingelassen, stand jeweils ein Bett.
Die alten Möbel, sofern sie noch in Ordnung waren, durfte sie behalten.
Sogleich ging sie daran, ein wenig Ordnung zu schaffen und die Räume zu säubern.
Das Bettzeug wurde gründlich gelüftet, die Stuben ausgefegt.
Dann schaute sie sich die Ställe an.
Im Geiste sah sie hier Kühe und Schweine herumlaufen. Im Garten, der auch viel Pflege nötig hatte, scharrten die Hühner und das Gemüse und die Kräuter konnten frisch geerntet werden.
Bis die Sonne unterging arbeitete sie im Haus und dann legte sie sich seit Monaten das erste Mal wieder in ein richtiges Bett.
Am Morgen sah sie an den Spuren, dass Jemand am Haus gewesen sein musste.
Sie fegte, schrubbte und wusch wieder den ganzen Tag, um ihr neues Zuhause so schön, wie möglich zu machen.
Auch an diesem Abend schlief sie müde und zufrieden ein.
So ging es viele Tage.
Niemand kümmerte sich um sie und sie fragte auch nicht nach den anderen Menschen.
Im Garten fand sie Gemüse, was der Vorbesitzer wohl noch angebaut hatte.
Dazu sammelte sie Kräuter und Beeren.
Im Regal fand sie noch ein wenig Mehl und buk sich ein einfaches Brot.
Auch hier ging sie nie ohne ihren Korb in den Wald, sammelte Holz und Wildkräuter.
Zwei Hühner hätte sie noch gern gehabt, aber das würde die Zukunft bringen.
Eines Morgens fand sie in dem Stall ein Wesen, das sich ganz zusammengekauert in die Ecke verkrochen hatte.
Aus einem unsäglich schmutzigen Gesicht sahen sie zwei große, ängstliche Augen an. Der magere Körper ließ nicht darauf schließen, ob es sich hier um einen Knaben oder ein Mädchen handelte.
Ein einfaches, schmutziges Hemd, das kaum die Knie bedeckte, bildete die einzige Kleidung.
An der rechten Wade klaffte eine lange, blutige Wunde, weswegen es hier auch wohl Schutz gesucht hatte,.
Die Alte ging vorsichtig näher und wie ein Kind verbarg es den Kopf in den Armen, ganz in sich verkrochen.
Als die Alte das Bein berührte, zuckte es nur einmal kurz, aber wehrte sich nicht.
Schnell eilte die Heilerin in das Haus, nahm Beinwellblätter, warf sie kurz in kochendes Wasser und holte saubere Leinenstreifen.
Dann lief sie wieder in den Stall, wo sie das Kind in immer noch der gleichen Haltung, in die Ecke gekauert, vorfand.
Vorsichtig legte sie die Blätter auf die Wunde und wickelte den Stoff drum herum.
Dann führte sie es zu einem Haufen Stroh und deckte es mit einer Decke zu.
Nach einigen Tagen war die Wunde geschlossen.
Das Menschenkind aß und trank und war nach einer Woche wieder so weit, dass es herumlaufen konnte.
Dann verschwand es wieder spurlos.
Die Alte ging ihrer gewohnten Tätigkeit nach. Sie sammelte Kräuter, Wurzeln, Blätter und Blüten und verarbeite alles zu Salben und Tropfen.
Jeden Tag ging sie in den Wald, um Holz zu sammeln.
Ab und zu fand sie Spuren von dem Wesen, welches sie verarztet hatte.
Mal lagen Zweige und Äste vor der Tür, mal Tannen- und Kiefernzapfen.
So vergingen der Sommer und der Herbst.
Die Alte bereitete sich auf den kommenden Winter vor.
Sie war oft stundenlang unterwegs und trug in ihrem Korb nach Hause, soviel hineinpasste.
Kräuter, Pflanzen, Beeren und Pilze wurden getrocknet und im Garten erntete sie das letzte Obst und Gemüse.
Es wurde abends schon empfindlich kalt und sie machte ein kleines Feuer, kochte sich eine Suppe, einen Tee und buk Brot.
Das verwahrloste Geschöpf ließ sich noch immer nicht blicken und sie machte sich Gedanken darüber, wie es wohl den Winter überstehen mochte.
Ende November fiel der erste Schnee.
Morgens fand sie vor ihrer Tür einen toten Hasen. Fußspuren führten in den Stall.
Da war es wieder.
Das scheue Wesen kauerte wie beim ersten Mal in einer Ecke, auf einem Haufen Stroh, trug zu dem schmutzigen Hemd eine alte, viel zu große Hose, in der Taille mit einem Strick zusammengehalten und neben ihm lag ein Leinenbeutel, der wohl alle Habseligkeiten enthielt.
Die Alte reichte ihr die Hand, aber das Kleine zuckte zurück, als wenn sie nichts Gutes erwarten würde. Aber als sie den Stall wieder verlassen wollte, folgte es ihr.
Aus dem Stall nahm die Frau einen hölzernen Zuber mit, den sie zum Baden benutzte und auch zum Wäsche waschen.
Nun heizte sie den Ofen ein und bereitete in ihrem größten Topf heißes Wasser.
Als sie das Wasser in den Zuber goss, einen Leinenlappen und Seife dazulegte, außerdem ein einfaches sauberes Hemd, drehte sie sich zu dem Geschöpf um, welches das Ganze mit großen Augen verfolgt hatte und winkte es zu sich.
Zuerst schaute es wild um sich, als wenn es eine Fluchtmöglichkeit suchte, aber kam dann langsam näher.
Da die alte Frau nicht wusste, ob es sie verstehen könne, bedeutete sie ihm durch Zeichen, dass sie sich ausziehen und in das Wasser steigen solle.
Wieder dauerte es eine längere Zeit, bis es endlich die Hose auszog und auch das einfache Hemd.
Ein schmaler Mädchenkörper kam zum Vorschein, genauso schmutzig, wie das Gesicht, aber offensichtlich nicht verletzt oder abgemagert.
Die Alte zeigte ihr den Gebrauch des Lappens und der Seife, half ihr, die Haare zu waschen und gab der Kleinen ein Tuch zum Abtrocknen.
Dann reichte sie ihr das saubere Hemd, nahm die alten Sachen, die sie angehabt hatte und warf sie in das Wasser.
Das Mädchen schien zu frieren und die Alte schickte sie ins Bett, damit sie wieder warm werden konnte.
Sie lief geschäftig hin und her, wusch die Kleidung gründlich aus und hing sie in der Nähe des Ofens über einen Stuhl.
Es würde länger dauern, bis die Sachen getrocknet waren und so schaute sie sich um, was sie ihr geben könne.
Schließlich nahm sie die Decke, die auf der Bank lag und schnitt und nähte eine Jacke für die Kleine daraus.
Ob sie wohl stumm war?
Nicht einen Ton hatte sie von sich gegeben, aber alles sehr genau verfolgt.
Im Dorf hatte es sich schon herumgesprochen, dass die Alte Kranke behandelte.
Man hatte sie zu einer alten Bäuerin gerufen, die Verstopfung hatte und hier konnte sie schnell helfen.
Auch hier war die Bevölkerung arm, der Arzt wurde selten bemüht.
Die Alte bekam Naturalien als Entlohnung, Mehl, Eier und ein Tuch, aus eigener Herstellung.
Für den Winter hatte sie schon Medizin gegen Husten und Salben zum Einreiben hergestellt.
Das älteste Kind von einem der größeren Bauernhöfe war ihr nächster Patient.
Als Bezahlung wurden ihr für das nächste Frühjahr drei Legehennen versprochen, dazu erhielt sie getrocknete Bohnen und Äpfel.
Als sie mit dem Nähen der Jacke fertig war, bereitete sie eine einfache Mahlzeit auf dem Herd.
Mit Heißhunger machte sich das Mädchen über ihr Essen her, sie schien sehr hungrig zu sein.
Die Fläschchen und Tiegel, die auf dem einen Regal standen, schienen es ihr angetan zu haben.
Jedes einzelne Stück schaute sie an, aber ohne es zu berühren.
Die alte Frau sprach mit ihr, erklärte, wozu die Medizin nötig war und mit welcher man sehr vorsichtig sein müsse.
Die Kleine schien sehr aufmerksam zuzuhören und als die Alte daranging, einen Kräuterauszug herzustellen, holte sie schnell Wasser vom Brunnen, fachte das Feuer stärker an und stand daneben, als die Alte die benötigten Handgriffe vollzog.
Sie lernte sehr schnell, saugte alles in sich auf.
Nach und nach konnte die Alte auch ihr Vertrauen erringen und das Mädchen sprach zu ihr. Langsam und mühsam, als wenn sie ihre Stimme lange nicht mehr gebraucht hatte.
All ihr Wissen vermittelte die Alte ihr.
So ging der Winter vorbei. Bei den meisten Behandlungen durfte das Mädchen dabei sein, bekam auch das eine oder andere Kleidungsstück geschenkt.
Nach einem Jahr war aus dem mageren kleinen Mädchen eine hübsche junge Frau geworden, die oftmals für ihre Lehrmeisterin einsprang, die nicht mehr so gut zu Fuß war.
Es gab Tage, da musste sich die Alte schon am Mittag wieder hinlegen.
Es war, als hätte sie nur darauf gewartet, ihr Wissen weiterzugeben und war jetzt bereit, den letzten Gang anzutreten.
Die Junge bemühte sich um sie, ängstlich darauf bedacht, ihr soviel wie möglich Arbeit abzunehmen, Nun, da sie endlich ein Zuhause gefunden hatte und einen Menschen, zu dem sie Vertrauen hatte, wollte sie nicht wieder allein sein.
Nach und nach hatten die Beiden 3 Hühner, ein Entenpaar und einen schwarzen Kater bekommen, den Niemand haben wollte.
Im Garten wuchsen Kräuter und Gemüse, Getreide bekamen sie als Entlohnung und an den Abenden stellten sie die Medizin her.
Der Sommer verabschiedete sich und der Herbst schickte schon die ersten Frühnebel und kühlen Nächte.
Immer wieder zeigte die Alte der Jungen alle Zubereitungen und ließ sie die Kranken allein behandeln.
Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Als sich auch der Herbst dem Ende zuneigte und der erste Schnee fiel, starb die Alte. Sie war über Nacht ganz ruhig eingeschlafen.
Die junge Frau war sehr traurig.
Leute aus dem Dorf halfen ihr, den Leichnam zum Kirchhof zu schaffen und zu beerdigen.
Die Junge blieb in dem Dorf, angesehen und geachtet von den Dorfbewohnern.
Als auch sie alt geworden war, nahm sie ebenfalls ein junges Mädchen bei sich auf, Waise, wie sie, die sie in alle Geheimnisse der Kräuter und Pflanzen einweihte.
Wie sie es von ihrer Lehrmeisterin übernommen hatte, zeigte sie ihrer Nachfolgerin, wie man durch Hände auflegen und Besprechen manche Krankheit heilen kann.
Nach einem Leben in Armut und immer im Dienst der kranken Menschen starb auch sie noch vor Einbruch des Winters.
Traditionell lebten auf dem Hof, seit die Alte dort eingezogen war, Frauen, die sich auf die Kräutermedizin und Heilkunst verstanden. Auch als Hebamme wurden sie gerne zur Hilfe gerufen.
Die Zeit, als die heilkundigen Frauen als Hexen verschrien und verfolgt wurden, war endgültig vorbei.
Tom Cody
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 15.07.2017 - 20:44 Uhr  ·  #2
Liebe Moni,

eine äußerst kurzweilige Geschichte! Vielen Dank dafür! Das Kräuterweiblein hat auf ihrem Gebiet sicherlich Pionierarbeit geleistet. Hat sich eigentlich an der Haltung der Menschen etwas verändert? Ich denke nicht. Die Bevöllkerung steht auch heutzutage vielen nicht alltäglichen Sachen und Methoden immer noch sehr verhalten und skeptisch gegenüber. Diese "Jägermeister- Hexe", um nicht Kräuter- Hexe zu schreiben, hat mir in ihrer Art und Weise und in ihrem Verhalten sehr imponiert.

LG Jürgen
Moniek
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 15.07.2017 - 22:50 Uhr  ·  #3
Lieber Jürgen,

diese Frau war auf ihre Art weise, indem sie die Natur beobachtete,
auf ihre innere Stimme hörte und das Richtige tat, wenn man sie ließ.

An der Haltung der Menschen hat sich wenig geändert, nur dass die
*Hexen* nicht mehr verbrannt werden, sondern höchstens verbannt.

Ein wenig mehr Toleranz und Vertrauen täte der Menschheit gut.

Liebe Grüße
Moni
Triskell
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 15.07.2017 - 22:56 Uhr  ·  #4
Ein wenig mehr Toleranz und Vertrauen täte der Menschheit gut.

Wohl war!
Moniek
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 15.07.2017 - 23:18 Uhr  ·  #5
:) *seufz
kraut-brain
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 16.07.2017 - 00:00 Uhr  ·  #6
Liebe Moni,

eine wahrlich interessante und inhaltsreiche Geschichte, hinter der eine immsense Fleißarbeit stand. Vielen Dank dafür auch von mir. Eine Geschichte, die wahrlich prägend für die Vergangenheit stand, aber auch heute in Teilen noch seine Gültigkeit hat. Es ist bezeichnend für den Mensch/ die Menschen, in der Not nach dem letzten Strohhalm zu greifen, aber im Zustand der Gesundung den wahrhaft Helfenden nicht den gebührenden Respekt/ Dankbarkeit entgegen zu bringen.

Die von dir geschilderte Geschichte lässt sich mühelos auch auf andere Situationen des Lebens beziehen. Und man wird auch dort mit Verhaltensmustern wie Skepsis, Misstrauen und Unterstellungen konfrontiert werden. Voreingenommenheit war schon immer ein schlechter Begleiter für Vertrauen und Toleranz.


Liebe Grüße Siegie
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 16.07.2017 - 01:19 Uhr  ·  #7
Ich danke Dir, Siegie :)
White Bird
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 16.07.2017 - 15:53 Uhr  ·  #8
Liebe Moni,

ich bin immer ganz gerührt, deine selbst erschaffenen Geschichten zu lesen. Mit dem Kräuterweiblein ist dir wieder etwas ganz Besonderes gelungen. Es hat wieder Spaß gemacht, dem sinnreichen Inhalt zu folgen. Ich freue mich schon auf künftige Geschichtchen von dir.

LG Beate :happy:
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 16.07.2017 - 19:09 Uhr  ·  #9
Liebe Moni, danke für die schönen und lieben Zeilen.
Die Ideen scheinen die zum Glück nicht auszugehen, gut so.

Leider sind Menschen immer gegen solche, die sich in der Natur etwas auskennen.
Dies Haltung wird wahrscheinlich immer so sein, leider.
Moniek
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Re: Das Kräuterweiblein

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Gepostet: 16.07.2017 - 20:26 Uhr  ·  #10
Danke Ihr Lieben für Euer feedback
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